Über vier Millionen Menschen sind seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine geflohen – die meisten von ihnen nach Polen. Die ukrainischstämmige Schriftstellerin Zanna Sloniowska lebt seit über zwanzig Jahren in der polnischen Großstadt Krakau und beobachtete die Geschehnisse genau. Da sie sowohl Ukrainisch, Polnisch als auch Russisch als ihre Muttersprachen bezeichnet und sich mit allen drei Ländern verbunden fühlt, haben wir sie zu ihrer Perspektive auf die Lage der Menschen und die Beziehungen der Nationen zueinander befragt.
Frau Sloniowska, Sie haben kürzlich in einem Essay für die New York Times geschrieben, dass es immer noch viele No-Go-Areas gibt zwischen der Ukraine und Polen. Wie ist dies gemeint?
Polen und die Ukraine haben eine lange gemeinsame Vergangenheit, die nicht nur von freundschaftlichem Zusammenhalt geprägt gewesen ist. Schon vor dem 20. Jahrhundert, aber insbesondere während und nach dem zweiten Weltkrieg gab es viele Spannungen und Gräueltaten beider Nationen, die bis heute nicht aufgearbeitet worden sind. Das Schweigen und Verdrängen der schrecklichen Aspekte der gemeinsamen Geschichte führen zu Tabus oder wie ich es nenne „No-Go-Areas“. Das belastete die Beziehungen und macht es schwierig, die bestehenden Traumata zu bewältigen. Ich sehe es als dringende Aufgabe für die nahe Zukunft beider Nationen, die Vergangenheit ehrlich und vollständig miteinander aufzuarbeiten.
Sie sind gebürtige Ukrainerin und leben mit ihrer Familie in Krakau. Wie verändert der Krieg die Beziehung zwischen beiden Ländern?
Die Pol:innen und die Ukrainer:innen sind mit Beginn der Kampfhandlungen noch näher zusammengerückt. Denn seit der Annexion der Krim besteht eine große Solidarität, die in den letzten Wochen nochmals enorm gewachsen ist. Es ist unglaublich, was der polnische Staat, die Kommunen und insbesondere die Zivilbevölkerung leistet. Die Pol:innen sind bereit ihre Wohnungen, ihre Lebensmittel und schlichtweg alles zu teilen. Die Hilfsbereitschaft hier im Land ist überwältigend.
Ihr Roman „Das Licht der Frauen“ handelt fast ausschließlich von Frauen, die viel kraftvoller als die Männer sind. Was macht die ukrainischen Frauen so stark?
Das ist eine schwierige Frage, zu der ich nur Mutmaßungen anstellen kann. Durch die Kriege und Unruhen waren die ukrainischen Frauen die vergangenen hundert Jahre in erster Linie auf sich selbst gestellt. Sie konnten von den Männern keine große Unterstützung erwarten, da diese im Krieg, im Gefängnis oder oft auch alkoholkrank gewesen sind. Die ukrainischen Frauen mussten ihre Familien häufig komplett allein versorgen. Dabei mussten sie sich ausschließlich auf sich selbst zu verlassen und stark sein. Solche Erfahrungen prägen die Menschen.
„Nach der Rückkehr dieser Ukrainerinnen ist der Wandel in der Mentalität der Frauen spürbar“
Zanna Sloniowska
Die ukrainischen Frauen, die in den letzten Jahren in Westeuropa gearbeitet haben und nach einiger Zeit heimkehren, sind wesentlich selbstbewusster heimgekehrt, sagten Sie einmal. Sind es die Frauen, welche die ukrainische Gesellschaft maßgeblich weiterentwickelt haben?
Durchaus. Diese Veränderung beobachte ich vor allem an Frauen, die aus finanziell ärmeren, ländlichen Gebieten stammen, dort wenig Zugang zu Bildung haben und an starre Geschlechterrollen gebunden sind. Viele dieser jungen Frauen emigrieren nach Süd- oder Westeuropa, um dort zu arbeiten. Dabei kommen Sie mit einer freieren Gesellschaft und einem anderen Frauenbild in Berührung. Sie finden dort Freund:innen, vielleicht einen neuen Lebensgefährten und verdienen ihr eigenes Geld. Solche neuen Erfahrungen verändern das Selbstbewusstsein sehr nachhaltig. Und natürlich ist auch nach der Rückkehr dieser Ukrainerinnen der Wandel in der Mentalität der Frauen spürbar. Im Gegensatz zu den Männern gehen viele Ukrainerinnen für einige Zeit ins Ausland und wir haben sogar einen eignen Begriff für die Kinder dieser Frauen, die in der Ukraine bleiben. Wir nennen sie „europäische Waisen“, was damit zusammenhängt, dass die Väter der Kinder in vielen Fällen immer noch kaum Verantwortung übernehmen.
Haben sie aktuell Kontakt zu Frauen in der Ukraine, die noch nicht geflohen sind?
Ja, ich kenne Ukrainer:innen, die sich freiwillig dazu entschieden haben, zu bleiben. Alle Menschen in der Ukraine machen derzeit gerade zwei kollektive Erfahrungen. Zum einen die einer unglaublich starken Gemeinschaft: Sie eint der Willen, die ukrainische Nation zu verteidigen, denn die große Mehrheit der Bevölkerung will auf keinen Fall mit dem russischen Militär kooperieren, sondern entschlossen Widerstand leisten. Die Option aufzugeben, existiert für die Menschen de facto nicht. Dabei versucht jede:r, sich nach den eigenen Fähigkeiten und Kräften am Kampf für die Freiheit zu beteiligen. Wer keine militärische Ausbildung hat, hilft auf andere Weise. Zum anderen entstehen durch diesen Krieg leider auch unweigerlich Traumata, die ebenfalls alle Ukrainer:innen miteinander teilen werden. Diese Schäden in den Seelen der Menschen zu heilen, wird wahrscheinlich viele Jahre dauern. Wenn es überhaupt möglich ist.
Haben die Pol:innen oder die Ukraine:innen mit dem Krieg gerechnet?
So wie ich es erlebt habe, haben die Pol:innen genau wie die restlichen Europäer:innen nicht mit einem tatsächlichen Einmarsch gerechnet. Durch die Mitgliedschaft in der EU und in der NATO fühlen sie sich auch heute noch recht sicher. Auf ukrainischer Seite sah das anders aus. Natürlich gab es unterschiedliche offizielle Einschätzungen, wobei die Angst der Bevölkerungen durchgehend zu spüren war. Trotzdem haben die Ukrainer:innen nicht unbedingt damit gerechnet, einfach weil es völlig irrational ist, ein so großes Land zu überfallen. Das widerspricht jeder Logik. Inzwischen greift das russische Militär zivile Ziele an und bringt wahllos Zivilist:innen um. Rationalität jeglicher Art haben wir schon lange weit hinter uns gelassen.

Sie sprechen fließend Russisch und habe auch persönliche Verbindungen in das Land. Was aus Russland kommt bei ihnen an?
Ich habe bereits 2014 zum größten Teil aufgehört, russische Nachrichten zu lesen. Die Propaganda hat seit der Annexion der Krim in erheblichen Maßen zugenommen und damit möchte ich mich nicht beschäftigen. Russische Prosa und Lyrik lese ich natürlich weiterhin; auch halte ich Kontakt zu meinen russischen Bekannten. Viele von ihnen leben heute im Exil oder sind von den brutalen Repressionen durch den Kreml verängstigt und deprimiert. Seit Facebook abgeschaltet wurde, hat sich der Kontakt auch deutlich erschwert. Wenn ich auf die russische Gesellschaft als Ganzes blicke, würde ich diese nicht mehr als lebendig beschreiben. Viele Einwohner glauben den Staatsmedien und sind komplett gehirngewaschen. Ich kann mir für Russland und seine Gesellschaft keine mögliche Zukunft vorstellen.
Es heißt, Künstler sind oft am kreativsten, wenn sie am Leben verzweifeln. Hilft Ihnen das Schreiben, mit diesen Zeiten zu leben?
Mich haben die Ereignisse persönlich sehr mitgenommen und ich empfinde die Lage als zu dramatisch, um kreativ zu arbeiten. Stattdessen schreibe ich journalistische Artikel oder gebe Interviews wie dieses. Zusätzlich versuche ich die Situation durch aktive Hilfe zu bewältigen und unterstütze Geflüchtete mit meinen Sprachkenntnissen und übersetze. Der Bedarf daran ist in Polen sehr hoch und damit kann ich einen Beitrag leisten. Das ist mir persönlich sehr wichtig.
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