Und dann ist da noch die Digitalisierung
Gibt es die optimale Strategie, wie sich der Einzelhandel angesichts der zunehmenden Digitalisierung verändern sollte, um mit den großen Playern mitzuhalten? Wo genau liegt der beste Mix zwischen Offline- und Online-Handel? Damit Studierende sich auf den Berufseinstieg vorbereiten können hat Giacomo Welsch vom Digital Retail Lab der Uni Würzburg die Herausforderungen, die sie erwarten, skizziert.
Der Einzelhandel befindet sich schon seit über einem Jahrzehnt in einer schwierigen Phase. In den Medien wird intensiv diskutiert, ob und wann der stationäre Handel von dem wachstumsstarken Online-Handel abgelöst wird und somit endgültig der Digitalisierung zum Opfer fällt. Hinzu kommt, dass in der letzten Dekade einige deutsche Einzelhandelsunternehmen Insolvenz angemeldet haben. Zu diesen zählen beispielsweise die ehemaligen Größen Schlecker, Praktiker, Butlers und Gerry Weber.
Dies alles führt nicht zuletzt bei AbsolventInnen betriebswirtschaftlicher und (informations-)technischer Studiengänge zu hoher Verunsicherung hinsichtlich der Entscheidung für einen Berufseinstieg in den Handel. Ausgerechnet in dieser Zeit der Verunsicherung beobachten wir aber den Trend, dass weltweit führende Onlinehändler wie Amazon und Alibaba beginnen, im großen Stil Supermärkte und andere stationäre Geschäfte zu eröffnen. Auch deutsche Unternehmen wie Adidas und Zalando investieren in den Offline-Handel.
Wie passt diese Entwicklung aber nun zu der eingangs beschriebenen Situation des Einzelhandels? Es sei vorweggenommen, dass die Digitalisierung bei der Beantwortung dieser Frage eine entscheidende Rolle spielt. Allerdings hat sich gezeigt, dass der Einsatz digitaler Technologien allein kein Garant für Erfolg ist. Denn weit vor der Entscheidung für oder gegen konkrete Digitalisierungsmaßnahmen, steht die strategische Ausrichtung eines Unternehmens. Genau an dieser Stelle darf ein Umdenken stattfinden – denn viele Handelsunternehmen haben sich in der Vergangenheit zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Dabei rückte ein entscheidender Erfolgsfaktor zunehmend in den Hintergrund: der Kunde. An dieser Stelle sind Amazon und Co. mit ihren kompromisslosen „Customer-first“-Strategien vielen Online- und Offline-Konkurrenten deutlich voraus. Aber was genau bedeutet es, den Fokus hin zum Kunden zu verschieben? Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, einen Blick auf die Kundenbedürfnisse zu werfen.
Zuletzt wurde im Rahmen zahlreicher Studien namhafter Beratungsunternehmen herausgefunden, dass sich Kunden vor allem ein einfaches, personalisiertes und möglichst ubiquitäres Serviceangebot wünschen. Dafür sind sie sogar bereit, persönliche Daten preiszugeben (zum Beispiel ihre Kaufhistorie) – vorausgesetzt, sie vertrauen dem Anbieter der Services. Dazu zählen beispielsweise personalisierte Produktempfehlungen, Beratungen und Rabatte sowie die Möglichkeit, nahtlos zwischen Online- und Offline-Vertriebskanälen hin- und herzuwechseln.
Dabei sollen die Vorteile der Online- und der Offline-Welt miteinander vereint werden – dies lässt sich besonders gut anhand der Bespiele Kosmetik- und Modehandel veranschaulichen: In beiden Fällen wollen Kunden Produkte gerne – gegebenenfalls unter qualifizierter Beratung – aus- beziehungsweise anprobieren, bevor sie sich für oder gegen einen Kauf entscheiden. Hierfür eignen sich stationäre Läden heute wie damals sehr gut.
Giacomo Welsch war nach seinem Studium der Wirtschaftsinformatik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Consultant bei Reply AG angestellt.
Seit 2017 ist er am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Systementwicklung tätig. Simultan fokussiert er die Themen „Omni-Channel“ und „IoT“ im Digital Retail Lab an der Uni Würzburg.
Auf der anderen Seite möchten sich Kunden ortsunabhängig über Produkte informieren können, beispielsweise mithilfe der Rezensionen anderer Kunden. Weiterhin wollen sie Preise vergleichen und sich ihren Einkauf nach dem Ladenbesuch nach Hause liefern lassen können, anstatt ihn bei einem Nachmittagsbummel durch die Innenstadt schleppen zu müssen. Hierzu eignen sich Online-Services, die via Smartphone konsumiert beziehungsweise initialisiert werden können.
Aus der Perspektive von Kosmetik- und Modehändlern kann sich also die Eröffnung sogenannter „Showrooms“ lohnen, die über kein üppiges Lager verfügen, sondern eher als Vorführläden fungieren, aus denen heraus Kunden Bestellungen tätigen können. Der Fokus liegt hierbei darauf, Kunden ein besonders positives Shoppingerlebnis zu bieten. Darüber hinaus können neuartige Services auch im Lebensmittelhandel zum Einsatz kommen. Hier bieten besonders die Läden von „Amazon Go“ ein innovatives Konzept. In diesen können sich Kunden beim Betreten über die Amazon-App identifizieren, ihren Einkauf tätigen und den Laden einfach, ohne an einer Kasse anstehen und manuell bezahlen zu müssen, verlassen. Die Produkte, die Kunden kaufen, werden hierbei automatisch in virtuellen Warenkörben gespeichert, woraufhin die Bezahlung – ebenfalls automatisch – über das entsprechende Amazon-Kundenkonto abgewickelt wird.
Nun stellt sich die Frage, wie Handelsunternehmen solche Services implementieren können. An dieser Stelle kommen neuartige Technologien beziehungsweise Anwendungen ins Spiel. Schlüsseltechnologien für die Entwicklung innovativer Anwendungen sind hierbei das sogenannte „Internet of Things“ (IoT), die Künstliche Intelligenz beziehungsweise das maschinelle Lernen sowie Augmented- und Virtual-Reality.
Im Rahmen von IoT-Implementierungen werden stationäre Ladengeschäfte mit Sensoren, wie Kameras oder RFID-Technologie, ausgestattet. Ziel ist zunächst die Identifikation und Virtualisierung von Produkten und/oder Kunden. Die auf diese Art und Weise gesammelten Informationen können dann eingesetzt werden, um neue Services, wie die automatisierte Abkassierung oder personalisierte Produktempfehlungen anzubieten – entweder via Smartphone oder durch einen Mitarbeiter, der über die Bedürfnisse des zu beratenden Kunden informiert wird. Bei diesen Services spielen Datenanalysemethoden der künstlichen Intelligenz beziehungsweise des maschinellen Lernens eine entscheidende Rolle.
Diese Methoden können zum Einsatz kommen, um Sensordaten nutzenbringend zu verarbeiten. Beispielsweise müssen Kameras in der Lage sein, Produkte anhand ihrer Verpackungen zuverlässig zu erkennen und Kunden zuzuordnen – dies wird bei „Amazon Go“ von einer künstlichen Intelligenz übernommen. Aber auch um Produktempfehlungen auf Basis vergangener Einkäufe und weiterer Daten zu generieren, bedarf es maschineller Lernverfahren. Zuletzt können Augmented- und Virtual-Reality-Anwendungen für die Produktpräsentation eingesetzt werden. Hiermit haben Kunden beispielsweise die Möglichkeit, Kleidung virtuell anzuprobieren oder sich virtuelle Uhren per Smartphone-App auf das Handgelenk projizieren zu lassen, bevor sie sich für einen Kauf entscheiden. Solche Services lassen sich ebenfalls sowohl beim Online- als auch beim Offline-Shopping anbieten.
Darüber hinaus sind etliche weitere Einsatzszenarien für IoT, intelligente Datenverarbeitung und Augmented- beziehungsweise Virtual-Reality denkbar. Diese gehen sogar über den Bereich der Kundenservices hinaus und eignen sich beispielsweise auch zur Verbesserung innerbetrieblicher Prozesse oder im Rahmen der B2B-Interaktion.
Für AbsolventInnen, die einen Berufseinstieg in den Handel in Betracht ziehen, bedeutet dies alles zunächst, dass sie ihre eingangs erwähnte Verunsicherung – falls vorhanden – ablegen dürfen, da der aktuelle Wandel des Handels enorme Chancen mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund sollten sie den „Customer-first“-Gedanken verstehen und verinnerlichen sowie die sich daraus ergebende strategische Ausrichtung in sinnvolle Digitalisierungsmaßnahmen überführen können. Hierfür bedarf es sowohl der Entwicklung kreativer und innovativer Konzepte als auch deren Umsetzung, Wartung und kontinuierlichen Weiterentwicklung. Dies alles muss ein Handelsunternehmen nicht zwingend immer in Eigenregie umsetzen, sondern kann auch auf Kooperationen mit Technologie- und Beratungsunternehmen zurückgreifen.
Gefragt sind also auch gute Kommunikations- und Koordinationsfähigkeiten und – vor dem Hintergrund der Globalisierung – Fremdsprachen (überwiegend natürlich Englisch) sowie weitere interkulturelle Kompetenzen.
Der Studienhintergrund ist dabei eher zweitrangig, da sowohl wirtschaftswissenschaftliches als auch technisches Know-how gefragt ist. Dennoch wird es den typischen BWLer wahrscheinlich eher in eine Beratungs-, Konzeptualisierungs- oder Koordinationsfunktion verschlagen, wohingegen der typische Informatiker gerade beim Berufseinstieg eher eine Entwicklerrolle einnehmen dürfte. Gute Karrierechancen gibt es in beiden Fällen.
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