Nicht immer gelingt es, einen geradlinigen Karriereweg zu verfolgen, selbst wenn man das ursprünglich fest geplant hatte. Unabhängig davon, ob man vorhat, die Gedanken in die Tat umzusetzen, ist es hilfreich, über Alternativen nachzudenken – es lohnt sich, damit schon während des Studiums anzufangen. Eine gewisse Offenheit für neue Möglichkeiten und das Schnuppern in verschiedene Bereiche können dir Aufschluss darüber geben, wie deine Karriere später einmal aussehen soll. Ein Gespräch mit der Psychologin Cornelia Seewald.
Viele Studierende fühlen sich unter Druck gesetzt, einen geradlinigen Karriereweg zu verfolgen. Ist das wirklich so wichtig?
Die erste Frage müsste eigentlich lauten: Wie wichtig ist Karriere überhaupt? Welches sind meine eigentlichen Lebensziele? Und wie stehen diese in Relation zu einander? Nach einigen Jahrzehnten intensiver Coaching-Aktivitäten möchte ich aus subjektiver Erfahrung schätzen, dass ich etwa 20 Prozent sehr geradliniger Karrierewege begleiten durfte. Ich habe aber sicher mehr als doppelt so viele erfolgreiche Lebens- und Berufswege begleiten dürfen, die durch vermeintliche „Brüche“, Neu- und Umorientierungen, Pausen, Branchenwechsel oder auch vorrübergehende Rückschritte charakterisiert waren.
Welche Wege oder Wegstrecken zum Erfolg führen, setzt voraus, sich darüber klar zu sein, wie man für sich selbst Erfolg definiert: Wirtschaftlicher Erfolg? Wissenschaftlicher Erfolg? Der beste seines Fachs zu sein? Autonomie und Selbstverwirklichung zu erreichen? Oder vieles andere mehr! Die eigenen Ziele und Vor- stellungen dürfen sich im Laufe einer Entwicklung durchaus ändern.
Und damit ist Ihre Frage auch schon fast beantwortet: Nein, geradlinig muss ein Karriereweg nicht sein, wichtig ist Selbstreflexion, das eigene Potenzial ausloten, sich über Konsequenzen von Entscheidungen klar werden, nicht nur überlegen, was ich tun will, sondern auch wie ich arbeiten möchte, in welchem Kontext, mit welcher Art von Menschen. So häufig wie möglich in verschiedene Arbeitswelten hinein zu schnuppern, kann eine Menge Ideen generieren.

Welche Strategien sollten Studierende dabei anwenden, um auch mit der nötigen Offenheit neuen Arbeitswelten zu begegnen?
Eine gute Möglichkeit, offen zu bleiben, liegt in dem Imperativ „Just think the opposite“. Ein Leuchtröhren-Schriftzug, der über dem Eingangsportal des Lenbach-Museums in München prangt. Sich das Gegenteil vorstellen, es ist völlig anders als es scheint, mit den eigenen Wünschen selbstkritisch umgehen. Gute Erfahrungen habe ich mit einer sehr phantasiereichen Reflexionsübung gemacht, die Kreativität erfordert und mit Hilfe derer man sich strategisch offenhalten kann.
Der Titel lautet: 4 Zukünfte. Kern dieser Übung sind vier zukunftsstrategische Fragen, für die möglichst differenzierte Antworten gefunden werden. Beispiel: 1. Ich heirate und werde glücklich. Wie sieht mein Leben dann aus? 2. Ich heirate und werde nicht glücklich. Wie sieht mein Leben dann aus? 3. Ich heirate nicht und werde nicht glücklich. Wie sieht mein Leben dann aus? 4. Ich heirate nicht und werde glücklich. Wie sieht mein Leben dann aus? Ziel ist, Resilienz und die Bewältigungskompetenz für jede der vier Perspektiven zu entwickeln. Die Themen können ganz verschieden sein: Ich werde Top-Manager…, Ich werde Mutter…, und so weiter.
Möglicherweise findet man artverwandte Berufsfelder: eine junge Frau möchte Schauspielerin werden, kommt aber nicht an und verdient statt dessen ein auskömmliches Gehalt als Sprecherin; ein Student der Kunstakademie reüssiert nicht in der Bildenden Kunst, wird aber als Galerist oder Auktionator erfolgreich; ein Modedesigner scheitert mit dem eigenen Label, ist aber eine gefragte Führungskraft in der Bekleidungsindustrie; eine Referendarin leidet im System Schule und wechselt ins Journalistenfach.
Während der Studienzeit ist es unabdingbar, möglichst viele verschiedene Praktika zu machen, Informationen vor Ort einzuholen, unterschiedlichste Menschen kennenzulernen – auch unterschiedlichen Alters. „Wo wird wie Geld verdient?“, ist eine Frage mit Potenzial. Die Recherche lohnt!
Viele verspüren einen großen Druck dabei, zu entscheiden, was wirklich „das Richtige“ für einen ist.
Es gibt kaum eine Entscheidung, die nicht revidierbar ist. Natürlich kann das „Kosten“ verursachen: Zeitverluste, psychische Beeinträchtigungen, finanzielle Konflikte, Verärgerung oder Unverständnis beteiligter Personen. „Umwege“ haben immer einen Preis. Man darf und muss sich aber erlauben, sich zu irren. Wie sollen wir sonst lernen?
Wir leben in Zeiten massiver Umbrüche – kann es da überhaupt noch einen „richtigen Weg“ geben?
Natürlich brauchen wir ein zeitgemäßes Mindset in diesen volatilen Zeiten! Es gibt den schönen Begriff der „Ambiguitätstoleranz“: Ungewissheiten aushalten, Widersprüche balancieren, Wunschdenken von Sehnsüchten unterscheiden – es gibt reichlich professionelle Hilfestellungen, um die eigene Persönlichkeit zu entwickeln.
Dazu gehört auch, sich zu fragen, welche Kompetenzen habe ich, welche möchte ich ausbauen und warum und welche möchte ich mir noch aneignen? Wenn man sich das ehrlich fragt, hat man wahrscheinlich ausreichend zu tun.
Ich habe Ihre Aussage „Alles im Leben ist Entwicklung“ gelesen, die mir sehr gut gefallen hat. Ich verstehe dies nicht als passive Rolle im Sinne eines „es entwickelt sich von selbst“. Welche Qualitäten braucht es schon im Studium, aktiv sein Leben zu entwickeln?
Für mich ist eine der Basisqualitäten, neugierig zu sein und zu bleiben, sich auszuprobieren in verschiedenen Rollen: bereits als Student:in, als Tutor:in im Uni-Betrieb, in Führungspositionen in Verbänden oder Initiativen, als Jugendtrainer:in im Sport, mal die Idee für ein kleines Start-up entwickeln. Gelegentliche Misserfolge als willkommene Information nutzen, um etwas zu lernen.
Man darf und muss sich erlauben, sich zu irren. Wie sollen wir sonst lernen?
An welcher Stelle haben Sie in Ihrem Leben gespürt, wie wichtig es ist, in Alternativen zu denken?
Oh, da gibt es nicht nur eine Situation! Eine sehr frühe „Neuorientierung“, möchte ich es mal nennen, war bereits mit Erlangung des Abiturs. Telefonisch hatte mein Vater an einem Freitag die Aufnahme meines Medizinstudiums in Innsbruck geklärt. Als ich am Montag dort eintraf, hieß es: Seit Samstagmittag besteht absoluter Ausländer-Stopp! Eine Überraschung! Und da mich Psychologie schon interessierte, habe ich im Studentensekretariat gefragt, ob ich denn mit Psychologie stattdessen hier anfangen dürfe. Und ich durfte! Nach zwei Semestern Psychologie in Innsbruck war ich vom Fach so begeistert, dass ich mich entschloss, weiter zu machen. Allerdings in Münster an der WWU, weil dort eine umfassende klinische Ausbildung angeboten wurde.
Und es gibt eine markante Situation in späteren Jahren: ein heftiger Dissens mit einem Arbeitgeber brachte mich in die Situation, drei Alternativen miteinander abzuwägen: dem Arbeitgeber nachzugeben und dort weiterzumachen, einen anderen Arbeitgeber zu suchen oder mich selbstständig zu machen. Ich habe mich für die Selbstständigkeit entschieden und es nicht einen Tag bereut.
Was macht nach Ihrer Erfahrung Menschen beruflich wirklich glücklich?
Ich denke, glücklich ist wirklich ein hoher Anspruch! Man kann sich dem aber durch Selbstreflexion annähern: Wann in meinem bisherigen Leben bin ich glücklich gewesen und warum? Waren es eine oder mehrere Phasen oder nur Augenblicke, Momente? Wenn Menschen eine Rolle gespielt haben, was kennzeichnete diese, welche Rolle hatten diese, in welcher Beziehung stand ich zu ihnen?
Ein anderer Weg ist, die eigenen Sehnsüchte wirklich zu erforschen: was ist mein tiefster Herzenswunsch, wo bin ich leidenschaftlich, was kann ich wirklich gut, wonach verlangt es mich häufig? Das sind Fragen, die man sich immer wieder im Leben stellen kann. Nie können wir alle Konsequenzen einer Entscheidung voraussehen, also gilt es, immer wieder mal Bilanz zu ziehen.
Und natürlich ist der wichtigste Indikator, selbstkritisch zu sein, wenn ich unglücklich bin. Was läuft schief, was stimmt nicht? Dann mutig die Verhältnisse ändern, sich beraten lassen, Entscheidungen nicht über Nacht, sondern vorbereiten. Ist es ein Dauerproblem oder eine vorüberziehende Eintrübung? Mut, eine gewisse Risikobereitschaft, etwas wagen und eine ehrliche Selbstbetrachtung weisen häufig den Weg.
Dr. Cornelia Seewald ist Diplom-Psychologin mit Führungserfahrung im Personalwesen und ist seit 1996 selbstständig. Ihr Coaching-Konzept C.O.S.T. zielt unter anderem darauf ab, Menschen dabei zu unterstützen, in Alternativen zu denken und zu handeln.