
Künstliche Intelligenz in der Wirtschaftsprüfung: Freund oder Feind?
Ob als smarter Assistent, Sparringspartner oder Organisator: KI-gestützte Tools sind bei RAW-Partner längst Teil des Prüfungsalltags. Sie ebnen den Weg zu einem datengetriebenen, effizienteren und individuelleren Prüfungsprozess und schaffen Raum für das, was wirklich zählt: den Menschen. Partner Stephen McIntosh zeigt, wie das in der Praxis funktioniert und warum KI eine echte Chance für die Wirtschaftsprüfung ist.

Stephen, RAW-Partner ist eine mittelständische Kanzlei mit über 150 Mitarbeitenden und einer sehr persönlichen Arbeitsatmosphäre. Sie sind einer der Partner. Wofür schlägt ihr Herz?
Ich hatte schon immer eine starke Affinität zu technischen Werkzeugen und lebe nach dem Grundsatz, dass es immer Möglichkeiten zur Optimierung gibt. Künstliche Intelligenz ist für mich ein Paradebeispiel: Sie ermöglicht eine noch individuellere Gestaltung von Abschlussprüfungen, ohne dass dabei Abstriche bei der Effizienz gemacht werden müssen.
Die KI prüft lückenlos sämtliche Buchungsdaten eines Jahres und weist auf Auffälligkeiten hin. Dadurch lassen sich Erkenntnisse gewinnen, für die bisher mitunter langjährige Erfahrung nötig war. Darin sehe ich eine große Chance: Die Qualität und Effizienz von Abschlussprüfungen kann nachhaltig gesteigert werden – und zwar so, dass auch weniger erfahrene Prüferinnen und Prüfer von Anfang an auf einem hohen Niveau arbeiten und mit Mandanten kommunizieren können.
Das bedeutet, dass die KI bereits heute Ihren Prüfungsalltag verändert?
Ja, denn bei RAW-Partner setzen wir auf KI-gestützte Datenanalyseprogramme mit Machine-Learning-Algorithmen oder auch Cluster-Algorithmen. Das eröffnet uns neue Möglichkeiten: Anstelle von rein stichprobenbasierten Prüfungen auf Basis eigener Erfahrung und Kenntnis des Mandanten, können wir heute der Individualität unserer Mandanten und ihrer Art, Geschäftsvorfälle zu erfassen noch besser gerecht werden. So lassen sich spezifische Auffälligkeiten, potenzielle Schwachstellen und Fehler identifizieren, die bei dem bisherigen Prüfungsvorgehen vielleicht unentdeckt geblieben wären.
Gleichzeitig vergleichen wir die Ergebnisse dieser Analysen regelmäßig mit dem Wissen unserer Mandanten sowie den Erfahrungen aus vorhergehenden Prüfungen. Dieser Schritt ist entscheidend, um gezielt an erkannten Schwächen zu arbeiten. Darüber hinaus evaluieren wir kontinuierlich neue und ergänzende Werkzeuge wie etwa die KI-gestützte Netzwerkanalyse zur Erkennung anormaler Buchungsstrukturen in Nebenbüchern. Solche Anwendungen helfen uns, unseren Prüfungsansatz kontinuierlich zu verbessern und uns von der ausschließlichen klassischen Stichprobenziehung immer mehr zu lösen.
Auf welche KI-Tools setzen Sie im Prüfungsalltag konkret und was macht sie unverzichtbar?
Aktuell sind im prüferischen Kontext insbesondere MindBridge zur Abschlussprüfung und Datasnipper aufgrund seiner exzellenten Texterkennung zur Auswertung und Referenzierung prüfungsrelevanter Daten relevant. Auf der sprachlichen Seite überzeugen DeepL durch orthografische und syntaktische Stärke sowie ChatGPT aufgrund der umfangreichen Trainingsdaten, auf denen Modelle wie GPT-5 basieren. Insbesondere ChatGPT ermöglicht es uns, individuelle und eigene Lösungen für den Einsatz in der Abschlussprüfung zu entwickeln, da es unter anderem in der Programmierung mit Python sehr stark ist.
Darüber hinaus kann ich noch Otto Schmidt Answers nennen. Ein KI-Tool, das auf steuer- und wirtschaftsrechtliche Fachliteratur trainiert wurde, Antworten stets mit den passenden Quellen belegt und mittlerweile ebenfalls ein essenzieller Bestandteil von Recherchearbeiten ist. Insgesamt helfen diese Tools in der richtigen Mischung bei der Lösung wichtiger alltäglicher Aufgaben – und das bereits heute mit einer signifikant besseren Geschwindigkeit bei ähnlicher Qualität im Vergleich zu Menschen.
„Wir betrachten jede Innovation als Chance, unseren Werkzeugkasten nutzenstiftend zu erweitern“
Wo spielt KI ihre Stärken im Prüfungsalltag aus und wo liegen ihre Grenzen?
Regelmäßig und gezielt eingesetzt, entfaltet KI schon heute spürbare Stärken – vor allem bei zeitintensiven Aufgaben wie der Recherche oder bei sich wiederholenden, monotonen Tätigkeiten resultiert ein Effizienzgewinn. Gleichzeitig ist der Einsatz verschiedener KI-Tools mit klaren Herausforderungen verbunden: Datenschutz und DSGVO-Konformität erfordern kontinuierliche Aufmerksamkeit und nicht unerhebliche Ressourcen.
Einschränkungen bei der Datenfreigabe wirken sich zudem direkt auf die Qualität der Ergebnisse aus. Eine weitere Grenze zeigt sich in der Anwendungsbreite: Aufgrund des Mandantenbezugs gibt es keine universelle „One-Size-Fits-All“-Lösung. Die Aussagekraft der KI-Ergebnisse steht und fällt daher mit der Präzision und Qualität des eingegebenen Prompts, der nutzbaren Daten und nicht zuletzt mit der Fähigkeit des diese Tools nutzenden Menschen, die Ergebnisse der KI zu verstehen beziehungsweise die richtigen Schlüsse daraus ziehen zu können.
Der Mensch muss immer noch die richtigen Schlüsse ziehen, aber was wird mit denjenigen passieren, die sich den neuen Werkzeugen verweigern?
Während KI derzeit noch keine Wirtschaftsprüfer:innen ersetzt, werden Nutzer:innen von KI in Zukunft diejenigen Mitarbeitenden ersetzen, die sie konsequent meiden. Ähnlich wie beim Übergang von analogen zu digitalen Prüfungen sollte heute jede:r Wirtschaftsprüfer:in in der Branche die eigene Arbeitsweise hinterfragen und sie gegebenenfalls an das heutige technologische Umfeld anpassen, da ansonsten signifikante Nachteile resultieren. Früher nahm etwa die Literaturrecherche über die Bibliothek deutlich mehr Zeit in Anspruch.
Heute kann ein Problem direkt an die KI übergeben werden, die in kürzester Zeit einen Lösungsvorschlag oder eine Ersteinschätzung liefert. Diese muss natürlich gegengeprüft werden, denn jede KI macht – zumindest heute noch – Fehler und bekommt auch nicht unbedingt immer sämtliche Informationen vollständig genannt. Darüber hinaus entfalten KI-Tools auch bei der komplementären Nutzung einen großen Mehrwert: Sie können wie ein aufmerksamer Assistent agieren, der auf Vollständigkeit hinweist, neue Perspektiven eröffnet und so zum Nachdenken anregt. Hier ist es noch der Mensch, der lernen muss, die neuen Möglichkeiten richtig einzusetzen.

Ein Vorteil mittelständischer Kanzleien ist oft die bessere Work-Life-Balance. Hilft KI dabei, die berüchtigte „Busy Season“ entspannter zu gestalten?
Ich denke schon, dass das zunehmend der Fall sein wird. Mit steigender Effizienz wird aber auch die Erwartung unserer Mandanten zunehmen, dass wir ihre Anfragen noch schneller bearbeiten und beantworten können. Allerdings gibt es die berüchtigte Busy Season, die ich aus meiner Zeit bei einer der Big Four sehr gut kenne, im Mittelstand so nicht. Hier gelingt die Vereinbarung von Arbeit und Freizeit schon sehr gut.
KI entwickelt sich rasant – wie stellen Sie sicher, am Puls der Zeit zu bleiben?
Am Puls der Zeit zu bleiben, beginnt für uns mit echter intrinsischer Motivation: Neugier, Offenheit und die Bereitschaft, neue Technologien aktiv auszuprobieren. Wir betrachten jede Innovation als Chance, unseren Werkzeugkasten zu erweitern und daraus langfristig Nutzen zu ziehen. Wir geben allen Mitarbeitenden die Möglichkeit, KI-Tools zu nutzen. Mitarbeitende, die sich darüber hinaus für die Erarbeitung von KI-Lösungen begeistern, können ihre Affinität dafür kontinuierlich ausbauen, und bekommen bei uns den Freiraum hierzu. Darüber hinaus pflegen wir einen engen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen – sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer Kanzlei.
Wenn Sie fünf Jahre nach vorne schauen: Wie wird KI die Arbeitsweise in einer mittelständischen, persönlichen Kanzlei verändert haben? Was bleibt „typisch RAW-Partner“, was wird komplett neu?
Das ist eine spannende Frage. Bis 2030 erwarte ich, dass die Automatisierung bei repetitiven, einfachen Verwaltungsaufgaben weit fortgeschritten sein wird. Der Einsatz von ChatGPT und auf bestimmte fachliche Themen trainierter generativer KIs wird Alltag in den Kanzleien sein. Zumindest in den Kanzleien, die sich dieser Entwicklung nicht verweigern.
Die Herangehensweise an die Erledigung der Aufgaben wird sich geändert haben. Wir werden aber auch mehr Zeit für die individuelle Beratung unserer Mandanten haben und der persönliche Austausch der Mitarbeitenden wird zunehmen. Typisch RAW-Partner wird bleiben, dass jeder Mitarbeitende so bleiben darf, wie sie oder er ist. Dies wurde mir bei meinem eigenen Vorstellungsgespräch bei RAW-Partner als Begründung dafür genannt, dass es hier viele sehr langjährige Mitarbeitende gibt. Und so ist es auch.