Oftmals ist es nicht leicht sein Potenzial direkt zu entdecken, besonders nicht, nachdem man es im Laufe des Studiums unter Gewohnheiten und Mustern begraben hat. Um sein Potenzial zu fördern, muss man sich erst bewusst werden, in welche Richtung dieses ausgerichtet ist und es aktiv zum Vorschein kommen lassen. So können Absolventen, mit ein wenig Überlegung, genau den Arbeitgeber finden, der zu ihnen passt und ihr Potenzial am stärksten entfalten lässt.
Die Erfahrung schafft die Realität
Wie schon in der Schule geht es im Studium überwiegend um Wissensvermittlung und Lernen. Die Intensität nimmt an der Hochschule noch zu. Ebenso das Lesepensum, der Aktivitätsgrad und die „Klassengrößen“. Nach Kegan ist Lernen vor allem IN-Formation. Vergleichbar mit einem Behälter, in den man immer mehr Themen und Aspekte füllt, ohne dass sich dessen Form verändert.
In meiner Tätigkeit als Gastdozentin für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität in Bayreuth begleite ich das studentische Team, welches jährlich die Bayreuther Dialoge organisiert. Die praktische Auseinandersetzung mit einem realen Projekt für die Dauer von zwei Semestern ermöglicht den Studenten eine konkrete Lernerfahrung mit Echtheitscharakter. Wir arbeiten in Workshops und befassen uns größtenteils mit Persönlichkeits- und Leitbildentwicklung sowie Führungs- und Projektmanagementskills. Durch den Mix aus Selbsterkenntnis, steigendem SELBST-Bewusstheitsgrad und Wissenstransfer findet eine qualitative Umstrukturierung in der Persönlichkeitsstruktur statt. Kegan nennt es „Transformation,“ die Form des Behälters wird transformiert. Aus dem alten Behälter entsteht ein neuer, wodurch sich zudem der persönliche Reifegrad erhöht.
Studenten kennen ihr Potenzial nur bedingt
Wenn die ersten 25 Jahre des Lebens zum größten Teil von Lernen geprägt waren, können sich Studenten nur bedingt ihres Potenzials bewusst sein.
Die meisten Studenten in meinem Kurs haben ihr Abitur mit sehr guten Noten abgeschlossen. Sie haben starke Leistungstreiber, die sich aus unterschiedlichen Motivationen heraus entwickelten. Der entscheidende Unterschied: Potenzial geht über die Frage der aktuellen Leistung hinaus. Die momentan erbrachte Leistung bezieht sich auf die Arbeitsergebnisse, ist durch Engagement sicht- und messbar. Im Gegensatz zum Engagement sind Motivationen nicht sichtbar. Im Berufsleben sind die Leistungsträger meist sehr engagiert, was nicht zwingend bedeutet, dass sie auch motiviert sind. In Unternehmen bezieht sich die Eignung auf die Leistungsfähigkeit in Bezug zum Anforderungsprofil der jeweiligen Stellenausschreibung. Arbeitgeber, die Wert auf die Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter legen, erkundigen sich zusätzlich nach den Neigungen der Bewerber. Neigungen sind „Vorlieben“, die unsere Aufmerksamkeit und unser Interesse auf natürliche Weise anziehen. Wer schon einmal eine Tätigkeit ausgeübt hat, die ihm leicht von der Hand ging und die ihm darüber hinaus Freude bereitete, kennt das Gefühl.
Muster sind keine Potenziale
Hinter leistungsorientiertem Verhalten stecken frühkindlich erlernte Muster. Wenn Leistung mit Zuwendung, Anerkennung, Auszeichnungen, Lob und/oder Geld belohnt wird, begünstigt dies ein „erwünschtes“ Verhalten, das manchmal fast in eine Art Konditionierung übergeht. Unterbewusst entsteht die Kernüberzeugung: Nur wenn ich etwas leiste, bin ich etwas wert. Das tückische an dem Muster „unerbittliche Ansprüche“ ist, dass erhöhtes Leistungsverhalten als „normal“ empfunden wird. Nicht selten wird das Leistungsverhalten per se in Frage gestellt, vor allem bei Menschen, die den Antreiber „sei perfekt“ haben. Perfekt ist nie gut genug, für Perfektion gibt es keinen Maßstab. Es gibt bestimmte Kriterien, die auf das Muster „unerbittliche Ansprüche“ hinweisen. Diese sind unter anderem Ehrgeiz, Perfektionismus, enge Zeitplanung, Effizienzdenken, ein „Vorrat“ an Arbeit und Verpflichtungen und die Existenz von Schuldgefühlen, die durch Pausen oder Nichtstun entstehen. Wer drei oder mehr dieser Kriterien erfüllt, hat mit höchster Wahrscheinlichkeit das Muster „unerbittliche Ansprüche“ verinnerlicht.
Leistungsfähigkeit ist in dem Fall kein Potenzial, es ist eine Kombination aus Emotion, Kognition und Verhalten. Einer meiner Studenten hat mir neulich erzählt, dass er sich auf sein Praktikum freue. Auf meine Frage hin, worauf er sich konkret freue, antwortete er: „Dann kann ich richtig zeigen, was ich kann.“ Gemeinschaft und Zugehörigkeit sind hohe Werte von ihm, die ich an dieser Stelle thematisiert habe. Mit einem hohen Leistungsniveau zu starten, weil man sich beweisen will, verstärkt lediglich das gewohnte Verhalten. Ich fragte ihn, welche Wirkung sein Verhalten bei den Kollegen hinterlassen würde, wenn er seinen Leistungsmaßstab setzt, ohne zu wissen, ob dieser auch angemessen sei. Mit dieser Frage wurde ihm bewusst, dass sein Verhalten bei Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, weniger leistungsfähig sind, etwas auslöst. Von Unsicherheit, über Angst bis hin zur Ablehnung. Sehr wahrscheinlich würden manche sich sogar freuen, wenn sein Praktikum endet. Meine nächste Frage, welche Wirkung er hinterlassen wolle, regte ihn zum Nachdenken an. Er kam zu dem Schluss, sich am Anfang zurückzuhalten, bis er die Lage einschätzen und im zweiten Schritt seinen Kollegen situativ Unterstützung anbieten kann. Mit der erarbeiteten Lösung fühlte er sich sehr wohl, weil er seinen Werten entsprechend handelte und sein Leistungsverhalten bewusst steuern konnte.
Potenzial entdecken lassen oder gezielt einsetzen
Ein Potenzial ist die Aussage zu zukünftigen Fähigkeiten oder Kompetenzen einer Person. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, es zu ermitteln. Zunächst macht es einen Unterschied, ob der Hochschulabsolvent sich in der Eigenverantwortung sieht es selbst zu entdecken oder dies dem Arbeitgeber überlässt. Coaches und Experten können einen mit verschiedenen Methoden und Verfahren dabei unterstützen, Kompetenzen, Fähigkeiten, verborgene Talente sowie Potenziale zu ermitteln. Somit kann die berufliche Laufbahn selbstbestimmt nach Neigung und Eignung gestaltet werden. Das beeinflusst maßgeblich die Selbstwirksamkeit, Gesundheit und Lebensqualität.
Wer den umgekehrten Weg wählt, sollte im Bewerbungsgespräch nichts dem Zufall überlassen. Der Einsatz von Personalauswahlinstrumenten ist ein Hinweis, dass der Arbeitgeber ein Interesse daran hat, den passenden Bewerber zu finden und zu fördern. Wenn keine diagnostischen Instrumente eingesetzt werden, ist die Identifikation mit dem Führungsleitbild ein wichtiges Auswahlkriterium. Im Bewerbungsgespräch mit der direkten Führungskraft ist die Frage nach dem unternehmensspezifischen Führungsleitbild am sinnvollsten. Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter in der persönlichen Entwicklung fördern, kennen das Führungsleitbild und handeln danach. Die direkte Frage nach der Potenzialeinschätzung aus Sicht der Führungskraft ist eine weitere Möglichkeit. Potenzialerkennung erfordert ein hohes Maß an Menschenkenntnis. Fremdeinschätzungen können hilfreich für die persönliche Entscheidungsfindung sein. Hierfür gibt es keine allgemeingültige Regel, die Kriterien nach denen Entscheidungen getroffen werden variieren von Person zu Person. Erfahrungsgemäß ist das Vertrauen in die eigene Intuition meist das Richtige.
Autorenhinweis:
Amel Lariani ist Inhaberin, Beraterin und Coach bei Embodyment Guide – menschenorientierte Personalarbeit (www.embodymentguide.com).
Frau Lariani ist Gastdozentin an der Universität in Bayreuth für Wirtschafts- und Unternehmensethik und hat acht Jahre lang menschenzentrierte Forschung betrieben.
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