Verlegerin Julia Becker über die Herausforderungen, mit Fake News und dem „cultural shift“ der Digitalisierung umzugehen
Julia Becker ist Vorsitzende des Aufsichtsrates der FUNKE Mediengruppe, die mit rund 5.500 Mitarbeitenden mehr als 1,1 Milliarden Euro pro Jahr erwirtschaftet. In den Branchenmedien wird die Verlegerin als eine der mächtigsten Medienpersönlichkeiten des Landes geschätzt. Im Interview zeichnet sie eine positive Zukunft für den Journalismus und ihr Unternehmen, benennt aber auch ehrlich die Defizite, an denen gearbeitet werden müsse. Eine dringende Notwendigkeit für Julia Becker etwa ist mehr Diversität in den Redaktionen – diese seien oft noch sehr klassisch und homogen besetzt, Migrant:innen, genauso wie weibliche Chefredakteure, noch stark unterrepräsentiert. Sorgen bereitet ihr die fehlende Medienkompetenz von Kindern, die von der Gesellschaft nicht ausreichend unterstützt werden, mediale Manipulationsmechanismen zu durchschauen.
Sind Sie eine Feministin?
Grundsätzlich beschreibe ich mein Denken und Handeln ungern mit Worten, die mit „ismus“ enden, das sind ja dann meist Ideologien; so ist mir auch ein Begriff wie Feminismus erst einmal suspekt. Wenn Sie aber mit Feminismus meinen, dass ich mich für die Gleichstellung aller Menschen, gegen Sexismus und gegen die Diskriminierung von Frauen einsetze, ja, dann bin ich eine Feministin.
Und wie divers nehmen Sie die Medienbranche heute wahr?
Die Branche ist in den vergangenen Jahren deutlich diverser geworden. Journalismus ist insbesondere für junge Frauen ein hochattraktiver Beruf. Seit einigen Jahren bewerben sich bei FUNKE deutlich mehr junge Frauen um ein Volontariat als Männer. Das kann viele Gründe haben, auch den, dass Männer meinen, in dieser leider nicht mehr als besonders zukunftsfähig angesehenen Branche keine Karriere mehr machen zu können. Wir freuen uns aber über die vielen, teilweise hervorragenden Berufsanfängerinnen. Nun ist es wichtig, dass Frauen gleichberechtigt in Führungspositionen rücken. Da sind wir in der Branche und leider auch bei FUNKE noch lange nicht am Ziel. Unsere Frauen-Zeitschriften werden zwar ausnahmslos von Frauen geführt, bei unseren Regionalmedien haben wir allerdings immer noch viel zu wenig Frauen in Chefredakteurspositionen.
Einen noch größeren Nachholbedarf sehe ich aber bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Migrationsgeschichte. Hier bilden wir nicht annähernd unsere bunte Gesellschaft ab. Das ist ein großes Problem, denn wir erreichen Migrant:innen als wichtige Zielgruppe mit unseren Medien nur schwer, wenn wir nicht Journalist:innen mit Migrationshintergrund haben. Insgesamt gilt: Wir müssen die Vielfalt der Gesellschaft in unseren Redaktionen abbilden, um die Menschen in allen ihren unterschiedlichen Facetten zu erreichen. Da haben wir noch viel zu tun. Doch zu FUNKE gehören ja nicht ausschließlich Regionalmedien und Zeitschriften. Wir haben uns in den vergangenen Jahren stark diversifiziert und besitzen auch viele Service-Portale. Sie kennen vielleicht die Bildungs- und Jobportale Azubiyo, Absolventa oder joblocal. Aber auch Musterhaus.de oder Monteurzimmer.de gehören beispielsweise zum FUNKE-Portfolio. Hier, in der rein digitalen Welt, sind wir deutlich jünger und auch diverser als in den anderen Sparten des Konzerns. Aber auch hier müssen wir darauf achten, dass Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund in Führungspositionen Verantwortung übernehmen. Das sind noch viel zu wenige.
Wir müssen mehr Vielfalt in unseren Redaktionen abbilden
– Julia Becker
Wofür steht Funke als Arbeitgeber?
In allen Sparten arbeiten wir bei FUNKE entsprechend unserer gemeinsamen Vision: Guter, unabhängiger Journalismus ist wichtiger denn je: für eine offene, informierte Gesellschaft! Das Konzept der offenen Gesellschaft schließt ein, dass alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, Bildungshintergrund, Hautfarbe, Behinderung oder Alter, die gleichen Rechte besitzen. Wir wollen auch intern eine offene Gesellschaft sein, in der alle Mitarbeitenden ihre Talente entwickeln und einbringen können. Was uns eint, ist die Leidenschaft für Journalismus – ganz gleich, ob er in unseren Regionalmedien stattfindet, in unseren Zeitschriften oder auf unseren Plattformen, ob es zum Beispiel harte politische Reportagen, gute Unterhaltung oder wertvolle Serviceangebote sind. Für guten Journalismus, der eine wichtige Grundlage für eine offene, informierte Gesellschaft ist, wollen wir bei FUNKE stehen – und wir stehen genau dafür auch mehr und mehr.
Kann es einem so großen Unternehmen wie Funke gelingen, eine verbindliche Kultur zu kreieren, die in der Führung all ihrer einzelnen Objekte gelebt wird?
Ein Medienunternehmen, das so stark in unterschiedlichen Regionen verwurzelt ist wie FUNKE, kann gar nicht nur eine einzige Kultur besitzen. Die Menschen in Essen „ticken“ anders als die Menschen in Thüringen oder in Braunschweig, Hamburg, Berlin oder in München, wo ein Teil unserer Zeitschriften sitzt. Wer die unterschiedlichen „mental furnitures“, die es in Deutschland gibt, kennen und verstehen lernen will, muss zu FUNKE kommen. Aber: Wir haben gemeinsame Werte und Standards, auf die wir uns alle verpflichten. Dazu gehören neben unseren Werten – Respekt, Qualität und Resultat – zum Beispiel auch Diversity-Leitlinien. In ihnen ist verankert, dass alle Menschen bei uns die gleichen Chancen haben, sich zu entwickeln und ihren Beitrag zum Erfolg unseres Unternehmens zu leisten.
Sie waren und sind kritisch gegenüber manchen der eigenen Medienprodukte, obwohl sie kaufmännisch notwendig sind. Wie meistern Sie das, einerseits unternehmerisch verantwortlich zu sein, andererseits aber auch einen hohen journalistischen Anspruch zu haben?
Es ist sehr interessant, dass Sie das sagen. Ich möchte tatsächlich schon auch als ein Vorbild agieren, gerade was die Begeisterung für guten Journalismus und alle Diversity-Themen angeht. Wie sollen denn die Mitarbeitenden ihr Bestes für guten Journalismus geben und sich für Diversity einsetzen, wenn ich es nicht tue? Natürlich komme ich immer wieder auch in schwierige, manchmal auch in Dilemma-Situationen. Und selbstredend maße ich mir nicht an, immer die Lösung oder auch nur die richtigen Worte zu finden.
Oft genug bin ich auch Suchende und Zweifelnde. Das offen zu äußern, halte ich übrigens eher für eine Stärke als für eine Schwäche. Die Zeit der unfehlbaren Supermänner an der Spitze von Unternehmen ist doch nun wirklich vorbei, auch wenn sich einzelne, auch in unserer Branche, noch so aufspielen. Ja, manchmal ärgere ich mich auch über das eine oder andere unserer Produkte. Wenn Sie auf die Yellows anspielen: Ich halte Klatsch und Spekulationen durchaus für legitim. Klatsch schafft Nähe und hält Gesellschaften zusammen. Viele Menschen wünschen sich eine Gegenwelt zur harten Realität ihres Lebens – und unsere Titel geben ihnen genau das. Wichtig ist mir aber dabei, dass auch in den Yellows nicht mutwillig gelogen wird und die Grenzen des guten Geschmacks nicht böswillig überschritten werden. Wenn das passiert, bin ich wirklich sehr ärgerlich und auch nicht bereit, es folgenlos hinzunehmen.
Die Verbreitung digitaler Medien hat auch dazu geführt, dass das Vertrauen in Demokratien sinkt. Warum ist es so schwierig für Qualitätsmedien, sich gegen Troll-Kampagnen in Social Media, Lügenpresse-Vorwürfen und gesteuerte Desinformation zu behaupten?
Wir durchschauen die Mechanismen, die den großen Digitalplattformen riesige Reichweiten und sehr gut zu monetarisierende Datenschätze bescheren, inzwischen gut. Wir wissen, wie die Algorithmen der sozialen Medien Fake News, Hatespeech, grobe Vereinfachungen, Übertreibungen und Zuspitzungen belohnen – indem sie nämlich die besonders reißerisch formulierte Meldung ganz oben listen und besonders weit verbreiten. Und wenn wir genau hinsehen, dann verstehen wir auch, wie die Feinde der Freiheit – wie Wladimir Putin oder extremistische Parteien und Gruppierungen –,genau diese Mechanismen nutzen, um in freiheitlichen Gesellschaften Unfrieden, Unzufriedenheit, Hass, ja, Chaos zu stiften. Populisten und Extremisten sind am Chaos interessiert, nicht an Lösungen, und sie lügen dafür völlig ungeniert. Denn je mehr Chaos herrscht, desto größer die Wirkung des patriarchalischen Modells, das die Feinde der Freiheit anstreben. Sich dagegen mit rationalen, der Wahrheit verpflichteten News zu behaupten, ist nicht einfach.
Lügen werden in der Regel sieben Mal so häufig angeklickt wie wahre Nachrichten. Dieser Befund darf uns aber nicht deprimieren, er muss uns motivieren, mit journalistischen Nachrichten das Netz zu fluten. Und zwar auch und vor allem in den sozialen Medien, die für viele Menschen zur primären Informationsquelle geworden sind. Zwar ist es wirklich schwer, mit journalistischen Produkten bei YouTube, TikToK oder Instagram Geld zu verdienen – das tun bisher nur die Plattformen, und zwar prächtig. Wir müssen aber mit unseren Marken hier präsent sein, auf die Beiträge auf unseren Plattformen verweisen und mit ihnen verlinken. Denn gerade junge Menschen sind hier zuhause – und wir müssen genau dort sein, wo die Menschen leben. „Flood the zone with shit“ hat Steve Bannon, der berüchtigte Trump-Berater, mal gesagt. Unsere Antwort muss lauten: „Flood the zone with journalism“!
Aber natürlich können wir Verlage uns nicht alleine gegen die Macht der sozialen Digitalisierung stellen. Die meisten jungen Menschen haben kaum noch eine Bindung an traditionelle Medienmarken. Sie informieren sich vorwiegend über die sozialen Medien und nutzen keine journalistischen Produkte, wenn sie sich denn überhaupt über Politik, Gesellschaft, Kultur informieren. Aus Untersuchungen wissen wir, dass die Zahl der sogenannten „News Avoider“, also derjenigen, die Nachrichten bewusst vermeiden, immer größer wird. Die Konsequenzen sind fatal: Wer sich nicht informiert, nimmt nicht am gesellschaftlichen Leben teil, wirkt nicht mit, lässt geschehen, konsumiert nur. Die Verantwortung für diese Entwicklung liegt nicht primär bei den jungen Leuten selbst. Unsere Gesellschaft, unsere Bildungspolitik, wir alle haben es verschlafen, angesichts der enormen Veränderungen, die das Internet in unserem Kommunikationsverhalten bewirkt hat, das Thema „Medienkompetenz“ systematisch anzugehen. Lassen Sie es mich zugespitzt formulieren: Wenn Eltern es bequemer finden, ihre Kinder mit TikTok, Instagram oder YouTube zu beschäftigen als ihnen zum Beispiel vorzulesen und mit ihnen zu spielen oder Gespräche zu führen, dann müssen wir uns nicht wundern.
Fehlt es der Jugend an Medienkompetenz?
Es ist so wichtig, dass bereits Kinder und Jugendliche lernen, zwischen wahren und unwahren oder manipulativen Geschichten im Netz zu unterscheiden. Dass sie ein Gefühl dafür bekommen, was richtig ist und was falsch – und dass ihnen bei dieser Einschätzung idealerweise auch Tools helfen. Von größter Bedeutung ist zudem, dass sie lernen, mit Übergriffen, wie dem Cybergrooming, im Netz umzugehen. Unsere Bildungspolitik hat hier viel zu lange geschlafen, wie die Politik ja eigentlich in allen Fragen der Digitalisierung geschlafen hat. Erst allmählich bequemen sich die Kultusministerien über ein eigenes Schulfach „Medienkompetenz“ nachzudenken beziehungsweise das Thema in die Lehrpläne aufzunehmen. Bei FUNKE fördern wir ganz gezielt Projekte der Medienbildung. Mit sogenannten Smart Camps gehen wir gemeinsam mit externen Coaches an die Schulen und vermitteln dort digitale Bildung. Viele Tausend Kinder haben wir bereits erreicht. Gemeinsam wollen wir jungen Menschen zeigen, dass Journalismus etwas mit ihrem Leben zu tun hat und wichtig für unser Zusammenleben ist.
Die Politik hat in fast allen Fragen der Digitalisierung geschlafen
– Julia Becker
Wo sehen Sie langfristig die Zukunft von Printpublikationen?
Print wird noch lange eine Rolle spielen. Vor allem bei Zeitschriften, weil die Menschen einfach die Haptik und Bilderstrecken, die in den gedruckten Magazinen eine großartige Wirkung haben können, lieben. Auch bei den Regionalmedien dürfen wir die Printausgaben auf keinen Fall vernachlässigen, denn viele Menschen wollen die gedruckte Zeitung weiterhin lesen, sie ist selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Und wir wollen diese Leserinnen und Leser nicht verlieren. Gleichzeitig wird im News-Journalismus aber natürlich digital immer wichtiger. Hier liegt die Zukunft und hier gehen wir mit einem konsequenten „digital first“ in die strategische Offensive. Dabei verstehen wir die Digitalisierung nicht nur technisch, sondern vor allem auch kulturell. Der wichtigste „cultural shift“ ist, dass wir die Interessen und Bedürfnisse unserer Userinnen und User mehr denn je in den Vordergrund stellen. „Digital first“ heißt bei uns also „audience first“!
Wir verfügen über einen großen Datenschatz, wissen genau, welche Beiträge unsere Leserinnen und Leser besonders schätzen, wie lange sie darauf verweilen, wofür sie bereit sind, Geld zu zahlen. Mit genauen Marktanalysen finden wir zudem heraus, welche Fragen die Menschen in einer Region besonders umtreiben, was in einer Region besser laufen könnte und welche Probleme sie gelöst sehen wollen. Danach richten wir unseren Content aus. Der Erfolg dieses klaren Blicks auf unsere Leserinnen und Leser ist groß: Wir konnten damit die Relevanz unserer Medien enorm steigern – und den Traffic auch in manchen Lokalredaktionen sogar um 30 Prozent. Mir ist aber wichtig zu betonen, dass wir Themen, die nicht von den Userinnen und Usern kommen, unsere Journalistinnen und Journalisten aber für wichtig halten, trotzdem noch publizieren. Sie werden jetzt nur mit einer besonders hohen Sensibilität für die Interessen der Leserinnen und Leser aufgearbeitet, indem sie sprachlich und inhaltlich „abgeholt“ werden in ihrer spezifischen Lebenswelt. Denn jede Geschichte sollte idealerweise so erzählt werden, dass die Leserinnen und Leser sie nicht nur verstehen, sondern auch einen persönlichen Bezug zu ihr herstellen können.
Kann es für einen Großverlag wie Funke mit einem derart breiten Portfolio eigentlich „die” Digitalstrategie geben?
Klares nein. Der News-Journalismus unserer Regionalmedien funktioniert anders als der Magazin-Journalismus im Netz. Mit jungen digitalen Titeln wie Edition F, wmn.de oder gofeminin.de sind wir hier schon ziemlich erfolgreich unterwegs. Auch unsere Hörzu-App hat eine enorme Reichweite. Wir stehen hier allerdings vor der Herausforderung, unsere Angebote wirkungsvoll zu monetarisieren. Wir probieren dabei sehr viel aus und stellen fest, dass es für viele unserer ursprünglichen Print-Titel auch im Netz durchaus einen Markt gibt. Aber wir dürfen die Augen nicht vor der Realität verschließen: Für manche unserer Magazin-Titel gibt es nur als gedruckte Ausgaben eine Zukunft.
Wer ist für Sie heute ein weibliches Role Model, welches Frauen sehr inspiriert?
Ich hatte vor kurzem Gelegenheit, Hillary Clinton zu begegnen. Wie sie ihren Weg gegangen ist, eine großartige Karriere gemacht hat, mit Niederlagen umgeht, nie aufgibt und dabei stets Frauen ermutigt, Verantwortung für die Gestaltung unserer Gesellschaft zu übernehmen und Führungspositionen anzustreben – ja, sie ist ein Role Model für mich. Mein wichtigstes Role Model ist aber wohl meine Mutter: Sie hat immer den besten Weg für das Unternehmen gesucht, auch in widrigsten Zeiten nie aufgegeben, für das Unternehmen zu kämpfen, enorm mutige Entscheidungen getroffen – und ist dabei immer sie selbst geblieben. Und gleichzeitig war sie eine großartige, liebende Mutter. Sie hat in ihrem Leben Großes geleistet und nie viel Aufhebens darum gemacht. Sie ist ein großes Vorbild für mich.
Julia Becker ist die Enkeltochter von Jakob Funke, der 1948 gemeinsam mit Erich Brost die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) in Essen gründete und so den Grundstein für das erfolgreiche Medienhaus legte. Geboren wurde Julia Becker 1972 in Essen; sie wuchs mit zwei Geschwistern auf. Nach der Schule studierte sie in München und Münster Germanistik, Anglistik, Theaterwissenschaften und Politikwissenschaften. Verheiratet ist die dreifache Mutter mit Otto Becker, dem früheren Springreiter.
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