Bei der Bundestagswahl 1994 war Tessa Ganserer 17 Jahre alt und hat sich furchtbar geärgert, dass sie nicht mitwählen durfte. Dies sollte für sie die Initialzündung sein, am ökologischen und gesellschaftlichen Aufbruch politisch mitzuarbeiten und sich den Grünen anzuschliessen. Seit 2021 ist sie Mitglied des Deutschen Bundestags.
Du bist die erste Abgeordnete, die ihre Transgeschlechtlichkeit publik gemacht hat. Was hast du seit 2018 über Menschen gelernt?
Ich habe zunächst wahnsinnig viel über mich gelernt. Mir war klar, dass es naiv wäre, zu glauben, ich könnte als die Frau in den Landtag gehen, die ich eigentlich schon immer war und so tun als wäre nichts gewesen. Mir war klar, dass mein Coming-out ein enormes Medieninteresse erzeugen wird, dass ich gezwungen sein werde, einen öffentlichen Seelenstriptease hinzulegen. Und dass ich meine Transition unter öffentlicher Beobachtung werde vollziehen müssen. Ebenso war mir klar, dass negative Reaktionen nicht ausbleiben werden. All die Häme, der Spott und der menschenverachtende Hass, der mir seit meinem Coming-out ins Gesicht schlägt, sind die Wirklichkeit gewordenen Albträume, die mich vor meinem Coming-out so oft haben nicht schlafen lassen. Ich wusste nur nicht, ob ich in der Lage bin, das emotional durchzustehen. Viel schlimmer ist aber die Tatsache, dass ich mir eingestehen muss, dass ich diese gesellschaftliche Transfeindlichkeit so dermaßen internalisiert habe, dass ich lange nicht in der Lage war, mich selbst zu akzeptieren. Aber all das wiegt nichts dagegen, nicht selbst sein zu können, nicht sein Leben leben zu können. Es reicht eben nicht, zu wissen, wer und was ich bin. Für uns Menschen als soziales Wesen ist es enorm wichtig, dass uns die Gesellschaft auch so wahrnimmt und akzeptiert, wie wir sind.
„Es ist Aufgabe aller demokratischen Politiker*innen und aller gesellschaftlich relevanten Kräfte, sich für ein diskriminierungsfreies Miteinander einzusetzen“
Tessa Ganserer
Zusätzlich zur Pandemie gibt es Krieg in Europa. Rücken Fragen, wie wir eine offenere Gesellschaft kreieren können, dadurch nicht fast zwangsläufig so in den Hintergrund, dass reaktionäre Standpunkte leider wieder salonfähiger werden?
Menschen, denen die Rechte von marginalisierten Gruppen ein Dorn im Auge sind, versuchen ständig mit dieser Argumentation die berechtigten Forderungen nach Akzeptanz abzuwenden. („Das betrifft ja nur ein paar Menschen, es gibt wichtigere Themen.“) Aber es geht nicht, die Probleme gegeneinander auszuspielen. Die Politik muss sich allen Herausforderungen stellen und wenn anhand von gruppenbezogenen Merkmalen Menschen abgewertet, ausgegrenzt oder benachteiligt werden, dann darf es keine Rolle spielen, wie viele Menschen dies betrifft. Das geht uns als Gesellschaft als Ganzes an, es ist Aufgabe aller demokratischen Politiker:innen und aller gesellschaftlich relevanten Kräfte, sich für ein gutes und diskriminierungsfreies Miteinander einzusetzen.
Du bist Mitglied im Umweltausschuss des Bundestages, der unter anderem auch für das Thema nukleare Sicherheit zuständig ist. Wegen des Kriegs werden die Rufe nach einer Verlängerung der AKW-Laufzeiten lauter. Wie bewertest du diese Forderungen?
Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet die politischen Kräfte, die durch Nichtstun in den letzten 16 Jahren mit dafür verantwortlich sind, dass wir als Gesellschaft enorm abhängig sind vom Import fossiler Brennstoffe, nun nach einer Laufzeitverlängerung der letzten Atomkraftwerke rufen und damit den Eindruck erwecken, wir könnten die Atomkraftwerke einfach so weiter laufen lassen, wie wenn wir mal eben nachts das Licht im Flur länger brennen lassen. Es wird hier völlig ausgeblendet, dass es sich um eine nicht beherrschbare Hochrisiko-Technologie handelt, dass wir für das Weiterlaufen keine Brennstäbe haben, und die Uranlieferanten für europäische Atomkraftwerke zu 40 Prozent aus Russland und Kasachstan kommen. Hinzukommt, dass für den weiteren Betrieb sehr umfangreiche Sicherheitsüberprüfungen notwendig wären. Doch am schwersten wiegt, dass es angesichts der Angriffe auf Atomkraftwerke in der Ukraine mit Panzern, mit zehn Fahrzeugen, in dem einen Fall mit Schüssen in die Anlage hinein, völlig unverantwortlich ist, über eine Verlängerung der Laufzeiten zu spekulieren, denn kein Atomkraftwerk ist für solche Situationen ausgelegt.
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