Sein Potenzial zu entfalten ist keine Selbstverständlichkeit – es erfordert Neugier, Ausdauer und die Bereitschaft, auch einmal zu scheitern. Doch wie erkennt man seine Talente und welche Rolle spielt dabei das eigene Umfeld? Im Interview gibt Coachin Birgitta Fildhaut dir Tipps, wie du dein wahres Potenzial entdecken kannst, warum das Ausprobieren essenziell ist und wie du mit Rückschlägen umgehst.
Jeder Mensch hat Potenzial – aber wie findet man heraus, welches?
Ausprobieren! Ausprobieren! Ausprobieren! Und sich gut beobachten: Wie geht es mir dabei? Was genau ist das, was mich dabei anzieht? Was gelingt mir leicht? Wenn ich auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen müsste, was würde ich dann gerne tun? Und dabei offen und gelassen bleiben, denn auch später gibt es immer wieder weitere Entwicklungsmöglichkeiten und manches zeigt sich auch erst nach und nach.
Außerdem können Profis mit zum Beispiel Berufseignungstests oder Persönlichkeitstests bei der Selbsterkenntnis helfen. Ich steige in meiner Arbeit oft ein mit den einfachen Fragen: Wobei fühlst Du Dich wohl? Worauf bist Du stolz? Was begeistert Dich? Was bewunderst Du an anderen? Die letzte Frage kann einen Hinweis darauf enthalten, in welche Richtung sich ein Mensch entwickeln möchte. Oder ich arbeite auch gern mit Analogien, wie zum Beispiel: Wenn Du ein Tier wärest, was wärst Du und was würdest Du tun?
Welche Rolle spielt das Umfeld bei der Entfaltung des eigenen Potenzials?
Oft berichten mir Menschen, die ich berate, dass es eine wichtige Person in ihrem Umfeld gab, die an sie geglaubt hat: „Du kannst das, wenn Du nur willst.“ Oder: „Du bist toll – aus Dir wird was!“ Das Umfeld kann ganz wichtig sein, um Anreize zu schaffen und das Ausprobieren zu ermöglichen. Du kannst sanft bestärken und ermutigen und – je nach Beziehung auch konstruktive Kritik spenden. Aber bitte erst fragen, ob sie willkommen ist. Loben, Anerkennung zeigen ist schon gut, sollte aber auf jeden Fall Platz lassen, damit die andere Person ihre innere Motivation selbst erkunden kann.
Was das Umfeld noch tun kann: Das Ausprobieren ertragen! Es kann zum Beispiel schon mal viel Toleranz erfordern, das Üben eines Musikinstrumentes auszuhalten oder wenn es beim Abendbrot kein anderes Gesprächsthema mehr zu geben scheint, als die momentane Leidenschaft. Und ganz wichtig: Zum Ausprobieren gehört es auch, möglicherweise zu scheitern und Dinge wieder verwerfen zu dürfen.
Ich ermutige in meiner Arbeit auch ganz ausdrücklich, sich aktiv Feedback einzuholen: „Jeder Mensch sieht Dich wieder anders und Du kannst aus jeder Rückmeldung etwas lernen.“ Was nicht heißt, es als Urteil über sich zu nehmen, sondern als eine Aussage, wie andere einen sehen. Das kann schon mal recht anregend sein. Auf der anderen Seite ist es auch sehr wichtig, sich von der Familie, aber auch vom Freundeskreis, nicht einengen zu lassen und sich zu trauen zu sich zu stehen.
Aber es ist nicht nur Feedback wichtig. Ich empfehle: Sprich mit anderen Menschen über ihren Beruf und was sie dabei anzieht, was sie genau tun und was sie daran schätzen. Aber auch welche vielleicht schwierigen oder langweiligen Seiten der Beruf hat, die sie dafür in Kauf nehmen müssen. So kann ich mir eher ein Bild davon machen, ob das eine Umgebung ist, in der ich mich entfalten kann.
Viele Menschen glauben, dass sie nur in dem gut sein können, was ihnen Freude bereitet. Stimmt das?
Teils teils. Wir verbringen sehr viel Zeit im Berufsleben, daher ist die Freude am Tun wichtig. Und es ist immer wieder schön, einer Person bei der Arbeit zuzusehen, die meisterlich in ihrem Fach ist und diese mit Freude ausübt, sei es der geschickte Maler oder die leidenschaftlich vortragende Professorin.
Vieles macht uns jedoch nicht von Anfang an Freude – die kann auch bisweilen mit dem Tun kommen. Ein typisches Beispiel: Ein Mensch wird Informatiker:in aus Freude an der Sache und macht sie gut und gern. Er oder sie wird befördert und andere Aufgabenbereiche wie Organisation und Führungsaufgaben kommen dazu. An diesem Punkt entdecken manche Menschen dabei ganz neue Talente an sich. Anderen fällt die Aufgabe schwerer und sie gewinnen im Lauf der Zeit mit guten Schulungen und Fortbildungen Freude an der Sache. Das kann auch schon mal hart sein, sich hier durchzubeißen. Mittlerweile trauen sich Führungskräfte auch zunehmend, wenn sie entdecken, dass ihnen diese Tätigkeiten überhaupt nicht liegen, wieder zurück zur Fachaufgabe zu gehen.
Talent allein ist für einen befriedigenden Berufsweg nicht das einzige Kriterium. Daher eruiere ich in meinen Coachings auch andere Persönlichkeitsfelder, um herauszufinden, was einem Menschen in punkto Beruf noch wichtig ist. Für einige steht Sicherheit im Fokus, für andere ein gutes Miteinander. Dann gibt es die Naturen, für die Entwicklung und Veränderung immer wieder Priorität hat, anderen wiederum bedeutet Status viel. Oder ethische Aspekte und ein sich Einsetzen für ein höheres Ziel.
Also heißt es wieder: Ausprobieren! Sei neugierig und offen Dir selbst und dem Leben gegenüber und erprobe Dich.
Wie kann man erkennen, dass man in einem Bereich Potenzial hat, auch wenn einem der Einstieg schwerfällt oder er nicht sofort interessant wirkt?
Die menschliche Evolution zeigt, dass wir dazu geschaffen sind, uns an die Erfordernisse des Lebens anzupassen, um zu überleben. Denk nur an den ganz selbstverständlichen Umgang der Digital Natives mit der digitalen Medienwelt. Diese Anpassungsfähigkeit zeigt, dass wir alle ein reiches Potenzial in uns tragen. Was wir davon aktivieren, hängt nicht nur von unseren Neigungen und Talenten ab, sondern auch von den Erfordernissen, die von außen an uns gerichtet werden. „Ein Mensch wächst mit seinen Aufgaben“, heißt es. Sofern ein Mensch nicht heillos überfordert wird, setzen diese Forderungen Potenzial und Kreativität im Bewältigen der Situation frei.
Das können wir uns zu Nutze machen und uns selbst Anforderungen stellen. Also heißt es wieder: Ausprobieren! Sei neugierig und offen Dir selbst und dem Leben gegenüber und erprobe Dich. Sei wachsam, ob Du Dir Schranken im Kopf setzt und Dich selbst begrenzt. Da denke ich zum Beispiel an das heutzutage leider wieder beliebte Vorurteil, Mathematik sei nichts für Mädchen.
Meine Empfehlung: Biete Dir reichlich an, wie an einem Buffet mit vielen fremden Speisen. Koste davon, auch mehrfach, manchmal gewinnt man erst später Geschmack an den Speisen. Wenn Dich aber so gar nichts anzieht, lass es. Es gibt genug andere Aufgaben im Leben. Und manchmal zeigt es sich erst im Laufe des Lebens, worin Deine Superkraft besteht. Diese offene Haltung gilt es zu pflegen, wir können sie im Leben gut gebrauchen.
Wie wichtig ist Disziplin im Vergleich zu Talent, wenn es darum geht, Potenzial zu entfalten?
Neben dem Ausprobieren sind dran zu bleiben und sich zu vertiefen notwendige Qualitäten, um die Potenziale ins Leben zu tragen. Mit Talent allein kommen wir nicht weit. Denk dabei zum Beispiel an das Talent eines Künstlers, er muss ständig üben und trainieren, um sein Instrument zu beherrschen. Es ist wichtig, dass er dranbleibt und auch Tiefs überwindet. Und eines ist klar: Je weniger Talent ich für die Aufgabe mitbringe, umso schwerer fällt es mir, die erforderliche Disziplin aufzubringen.
Was kann man dagegen tun, seine Fähigkeiten in bestimmten Bereichen zu unterschätzen?
“Erkenne Dich selbst“, lautet die Inschrift am Tempel von Delphi. Sie zeigt, wie grundlegend es die Menschen beschäftigt, wer sie sind und wie sie sind. Das Vertrauen in sich selbst entsteht durch Kontakt mit sich und der Situation, die es zu bewältigen gilt. So landen wir neben der Selbstreflexion wieder beim Ausprobieren. „Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es“, verweist uns Erich Kästner auf den Wert des Ins-Handeln-Kommens.
Ganz konkret bespreche ich dazu in meiner Arbeit: Was kann passieren? Bestenfalls und schlimmstenfalls. Und was machst Du dann? Wichtig ist, von vornherein auch darauf gefasst zu sein, dass es Rückschläge geben wird. Anders kann ein Mensch schlecht seine Grenzen ausloten. Als hilfreich für das eigene Zutrauen hat sich auch die Frage herausgestellt: Auf wen bin ich neidisch und warum? Welche Scheibe möchte ich mir von der Person abschneiden? Und was bin ich bereit, dafür zu tun? Und dann: Trau Dich – sei mutig!
Potenzial bedeutet nicht automatisch, dass alles leichtfällt. Wie geht man mit Rückschlägen um?
Das ist vielleicht nicht einfach, aber klar:
- Gute Vorbereitung, inklusive der bereits angesprochenen best case – worst case Betrachtung und einem Plan B. Das gibt Freiheit.
- Aufstehen, kurz aber ehrlich analysieren woran es lag, nachjustieren, gegebenenfalls einen anderen Weg ausprobieren. Nächste Schritte planen und tun!
Birgitta Fildhaut ist Diplom Sozialwissenschaftlerin und Business Coach (DBVC) mit den Schwerpunkten Kommunikation, Karriere und Konflikte. Sie lebt und arbeitet in Wuppertal und per Zoom weltweit.