Seit dem Tod der Studentin Jina Mahsa Amini im September 2022 durch die Sittenpolizei entzünden sich die Proteste im Iran immer wieder neu. Trotz der Gewalt und Furcht erheben die mutigen Protestierenden im Iran ihre Stimmen für das Recht auf Selbstbestimmung. Diese feministische Protestbewegung kann und muss uns alle dran erinnern, dass Female Leadership manchmal auf den Straßen passiert.
Im Iran haben sich die jüngsten Proteste, die durch den Tod von Jina Mahsa Amini im September 2022 ausgelöst wurden, zu einer weit verbreiteten und bereichsübergreifenden Bewegung entwickelt. Proteste im Iran sind nicht neu, werden aber immer häufiger und intensiver. Seit 2009 wurden dort Tausende von Demonstrationen gemeldet. Der Tod der jungen Kurdin hat die Proteste exponentiell intensiver werden lassen, denn es hätte jeden treffen können. Bei den Protesten geht es nicht nur um das obligatorische Hijab-Gesetz, sondern es werden Grundrechte für alle Menschen gefordert – darunter das Recht auf Selbstbestimmung in Sprache, Religion und Sexualität.
Weitere Gründe für die Proteste sind soziale Ungleichheit, die Wirtschaftskrise und fehlende Arbeitsmöglichkeiten für Absolvent:innen. Die Proteste sind nicht nur für Frauenrechte, sondern auch für das Selbstbestimmungsrecht aller Menschen im Iran. Es geht um alle Rechte für alle, daher die Parole: Frau, Leben, Freiheit. Zan, zendegi, azadi. Dies ist ein Aufstand gegen den vermeintlichen Gottesstaat in seiner Gesamtheit. Und in diesem Sinne ist es ein feministischer Aufstand. Denn dem Feminismus geht es nicht darum, Frauen anstelle von Männern an die Macht zu bringen, sondern um Selbstbestimmung. Der Zwang zum Kopftuch ist für die Aufständischen ein Symbol für die staatliche Verweigerung jener Selbstbestimmung.
Im Iran herrscht nämlich Geschlechter-Apartheid, wobei Frauen in rechtlicher Hinsicht am meisten benachteiligt sind. Das neue System seit der Revolution 1979 hat das fortschrittliche Familiengesetz aufgehoben und das Sorgerecht für geschiedene Frauen sowie das Mindestalter für die Verheiratung von Mädchen eingeschränkt. Frauen gelten als Bürger zweiter Klasse, und das Zeugnis einer Frau vor Gericht ist nur halb so viel wert wie das eines Mannes.
Trotzdem sind 65 Prozent der Studierenden Frauen. 4,2 Prozent der Frauen haben einen Hochschulabschluss im Vergleich zu 2,2 Prozent der Männer. Viele Frauen führen angesehene Berufe aus, auch wenn ihnen ihre Rechte aberkannt werden.
Das Aufbegehren der Frauen gegen das System setzt sich schon seit Jahrzehnten fort und hat erreicht, dass im Alltag die Gender-Apartheid vielerorts überwunden ist. Sie eroberten sich immer mehr kopftuchfreie Räume. Zunächst nur in den mondänen Skigebieten Nord-Teherans, dann auch mitten in der Stadt, wo mehr und mehr Frauen im Auto und sogar zuweilen auf der Straße das Kopftuch – schon vor den großen Protesten ab September 2022 – einfach nach hinten fallen ließen.
Und so manche rechtliche Ungleichheit wird auf recht unorthodoxe Weise kompensiert.
So soll der beliebteste Frauensport in Iran Karate sein. Was sicherlich auch eine Möglichkeit ist, auf ein Rechtssystem zu reagieren, dass es erlaubt, dass Frauen häusliche Gewalt erfahren.
Diese Missstände sind politischer und juristischer Natur. Im Iran ist Religion nicht mehr die treibende Kraft. Bereits 1989 hat der Ajatollah Khomeini – ein politischer und religiöser Anführer der Islamischen Revolution von 1979 und bis zu seinem Tod Staatsoberhaupt des Iran – in einem Rechtsgutachten (Fatwa) betont, dass der Nutzen für das System wichtiger ist als religiöse Vorgaben. Die Politik hat sich damit von den Bestimmungen des Korans emanzipiert und kann säkulares Handeln legitimieren. Die Politik im Iran ist nicht notwendigerweise islamisch-ideologiegeleitet und muss nicht einmal vorgeben, es zu sein. Islamische Begründungen werden nur noch selten verwendet und sind letztlich irrelevant.
Dennoch wenden sich viele Menschen im Iran vom Islam ab, da das Patriarchat die moderne Interpretation des Glaubens hemmt. Dennoch darf man nicht aus den Augen verlieren, dass der Islam nicht inhärent sexistisch ist. Es gibt die Möglichkeit, den Islam, wie alle anderen Religionen auch, modern und frauenfreundlich zu interpretieren. Das ist im Islam durchaus angelegt und wird praktiziert. Tatsächlich liegt es am Patriarchat, wenn diese frauenfreundliche Lesart nicht in juristische Gleichstellung umgesetzt wird. Gerade im schiitischen Islam gibt es nämlich ein großes Potential zur Modernisierung, da der ijtihad, die Rechtsfortbildung, stärker betont wird als im sunnitischen Islam. Hinzu kommt, dass die Schia durch ihre hierarchische Organisation gute Chancen hat, Veränderungen ex cathedra durchzusetzen.
„Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Freiheit sind universelle Bedürfnisse, die jeder Mensch in sich trägt”
Im Kampf für Frauenrechte ist es deshalb nützlich, eine anerkannte Autorität für sich zu gewinnen, wie es sie mit Groß-Ayatollah Yusuf Sane’i bis zu dessen Tod 2020 zuvor bereits gegeben hat. Versuche, die Gesetze zu verändern gibt es viele, zum Beispiel hat das 2006 eine Kampagne namens „Eine Million Unterschriften für Frauenrechte“ versucht, aber die Aktivistinnen wurden verfolgt, inhaftiert,ihre Versammlungen aufgelöst.
Impulse für die Frauenbewegung kamen in den 90er und 2000er Jahren durch die Zeitschrift Zanan „Frauen“. Dort wurden emanzipatorische Koranauslegungen vorgestellt und diskutiert. Das war ein wichtiger Schritt, bevor die Zeitschrift verboten wurde.
Die aktuellen Proteste entzünden sich jedoch ohne Organisation immer wieder an Gewalttaten gegenüber Mädchen und Frauen, jüngst an den landesweiten Vergiftungen von Schülerinnen.
Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Freiheit sind universelle Bedürfnisse. Jeder Mensch trägt diese in sich, egal in welcher Kultur oder welchem politischen Umfeld er aufwächst. Die Iranerinnen spüren mit jeder Pore ihres Körpers, dass das ihre Unterdrückung ungerecht ist. Und dieses Empfinden von Ungerechtigkeit bringt Sie dazu, sich dagegen aufzulehnen.
Sie spüren intuitiv, dass dieses vermeintlich islamische Gesetz wahrscheinlich gar nicht islamisch ist. Denn wie könnte Gott denn ungerecht sein? Das widerspricht dem zentralen Gebot des schiitischen Glaubens zutiefst. Frauen können eigentlich nicht an einen Gott glauben, der ungerecht ist. Also ist es vermutlich das Patriarchat, das ihnen dieses Gesetz eingebrockt hat. Und das Patriarchat ist, wenn man sich die Grundidee des Islams anschaut, ebenfalls zutiefst unislamisch. Eine patriarchalische Lesart hat einen misogynen Islam geschaffen, den die Islamische Republik Iran in ihrer Theokratie umsetzt, um die Herrschaft von Männern zu festigen.
Wer sich über die Proteste im Iran auf dem Laufenden halten möchte, kann über Twitter und Instagram Informationen beziehen. Deutsch-iranische Journalist:innen, wie Natalie Amiri, Isabell Schayani, Gilda Sahebi und viele weitere haben es sich zur Aufgabe gemacht, dass iranische Stimmen hier in Deutschland gehört werden und somit als Verstärker:innen dienen. Durch diese Frauen lässt sich bereits ein guter Ein- und Überblick über die Lage bekommen. Die Iraner:innen tun schließlich alles dafür, dass Nachrichten nach außen dringen, damit das Regime nicht einfach so gegen sie vorgehen kann, ohne dass das Ausland es mitbekommt. Sie tun alles dafür, das Nachrichtenmonopol des Regimes zu brechen.
Professor Dr. Katajun Amirpur ist deutsch-iranische Professorin der Islamwissenschaften. 2022 erhielt sie den Reuchlin-Preis der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Nach Professuren in Zürich und Hamburg, lehrt sie seit 2018 am Lehrstuhl für Islamwissenschaft mit dem Schwerpunkt Iran- und Schia-bezogene Studien an der Universität zu Köln. Im März 2023 erschien ihr Buch „Iran ohne Islam”, in dem sie erklärt, warum viele Iraner:innen sich vom Islam abwenden.
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Eine Bibliographie von Professor Dr. Katajun Amirpurs Publikationen findest du auf der Website der Universität zu Köln.